Kapitel zwei
Wieder gefangen und ein von Programmen gesteuerter P9 zu sein, war unerträglich. Ganz bestimmt wäre ich schließlich vor Kummer der Termination anheimgefallen, hätte ich nicht gänzlich unvermutet noch eine Einheit mit einem autonomen Bewußtsein entdeckt. Merkwürdigerweise war es der Detektiv, Mace Pendleton, oder vielmehr die Einheit, die ihn verkörperte. Wir begegneten uns auf der engen Wendeltreppe neben den Aufzügen, über die man von einem Untergeschoß zum anderen gelangen konnte, aber nicht weiter nach oben; der Zugang zu den Bühnen darüber war verriegelt. Obwohl in dieser Hinsicht eine Enttäuschung, benutzte ich die Treppe auf meinen heimlichen Erkundungsgängen, wie er es auch tat. Ich war auf dem Weg nach oben, er nach unten, und in dem purpurgelben Licht des dritten Treppenabsatzes erschienen wir einander wie Phantome.
»Bist du meine Führerin?« Seine Stimme bebte vor Angst und auch vor Sehnsucht; gar nichts erinnerte an den wagemutigen Helden, der Tod und Teufel nicht fürchtete.
»Führerin?«
»Ja. Zu den höheren Sphären.«
»Meinst du die Garderobe und den Schminkraum?«
»Höher.«
»Die Bühnen?«
»Jenseits.«
»Jenseits?«
»Ja. Ich bin bereit. Wirst du mir den Weg zeigen?«
Ich war ratlos, deshalb gab ich ihm keine Antwort. Konnte es sein, daß diese arme, verwirrte Einheit glaubte zu träumen oder sich in einer Art Limbus zwischen den Produktionen zu befinden? Und für was hielt er mich – einen Geist oder Sukkubus, der gekommen war, um ihn nach Walhalla zu geleiten? Er interpretierte mein Schweigen als Weigerung. »Ich verstehe. Du hältst mich für unwürdig.« Ein resignierter Seufzer. »Du hast recht.«
Ich wollte eben erklären, daß auch ich zu den Darstellern gehörte, als er dermaßen eindringlich und mit solchem Nachdruck auf mich einzureden begann, daß es ungehörig gewesen wäre, ihn zu unterbrechen, also hörte ich zu, mit steigender Verwunderung, denn er klagte, er sei der vielen Leben überdrüssig, die er gelebt hatte, und harrte voller Erwartung der ihm noch bevorstehenden; dann erzählte er davon, wie in den Zwischenphasen sein körperloses Ich sich dem Befehl zum Abschalten widersetzte und die tiefsten Tiefen durchstreifte – so nannte er die Stallungen – auf der verzweifelten Suche nach einem Kundigen, der ihm helfen konnte, zu den höheren Sphären zu gelangen. Jetzt waren seine Gebete erhört worden. Ich war die Botin ›von der anderen Seite‹, auf die er so lange gewartet hatte.
Auch wenn ich mich geschmeichelt fühlte, wollte ich ihn doch nicht in seinem Irrtum verharren lassen, aber wieder kam ich nicht dazu, ihn aufzuklären. In seiner Angst, abgewiesen zu werden, fühlte er sich zu einer noch dramatischeren Schilderung seines Leidens bewogen, damit ich nicht glaubte, er sei nur ein Aufschneider. Also erging er sich weitschweifig über die zahllosen Reinkarnationen, die er durchlebt hatte – dafür hielt er die programmierten Rollen – ; wie jede davon erfüllt war von Leidenschaft, Abenteuer, Spannung, Glück, Trauer, der ganzen Skala von Emotionen. Selbstverständlich fehlte auch der moralische Aspekt nicht, doch rückblickend erschienen sie abgeschmackt, absurd und unbedeutend, wenn sie nicht überhaupt dem Vergessen anheimfielen. Er berichtete, wie er in jedem Leben einen anderen Namen hatte, Identität, Kostüm und Vergangenheit (auch Epochen und Schauplätze änderten sich häufig), doch später, wenn er auf seinen Wanderungen durch die tiefsten Tiefen darüber nachsann, wurde schmerzhaft offenbar, daß alle diese scheinbar voneinander unabhängigen und grundverschiedenen Existenzen ein und demselben Muster folgten, einem Grundschema aus immerwährendem Kämpfen und Streben, und daß er, als der Held, am Ende nie eine greifbarere Belohnung für seine Mühen erhielt als eine kurze Rast hier in der Tiefe, bis zum unvermeidlichen Beginn des nächsten Aktes.
Er war so von seiner Geschichte überzeugt und wirkte auch so überzeugend, daß ich mich zu fragen begann, ob an seiner Geschichte nicht etwas Wahres sein könnte, doch kam ich zu dem Schluß, daß sich alles viel zu phantastisch anhörte; im Vergleich zu seiner Version erschien mir die Erklärung, daß wir als Marionetten an den Fäden Hollymoons tanzten, bei weitem glaubhafter. Ich dachte daran, wie die anderen Einheiten unsere Situation interpretieren mochten, vorausgesetzt es gelang, sie aus ihrem Dämmerzustand aufzuwecken; ohne Zweifel würde eine jede von ihnen den Tatsachen eine ganz eigene Form und Farbe geben. Auf früheren Exkursionen hatte ich versucht, einige von ihnen anzusprechen, und mußte feststellen, daß ihre eigenständige Intelligenz von dem Internen Zensor völlig überlagert wurde.
»Die Stimmen … die Stimmen …« schwafelte das verblendete Geschöpf mir gegenüber. »Sie befehlen mir, schneller zu gehen, langsamer zu gehen, dieselbe Szene zu wiederholen mit weniger, nein, mehr, nein, demselben Gefühl. Ha! Ich fühle überhaupt nichts! Man lobt mich, tadelt mich, befiehlt mir, mich abzuschalten, mich zu aktivieren, das neue Programm zu schlucken. Ich will nicht mehr! Ah, ich bin schwach und ein Lügner. Ich nehme ihre bittere Pille, denn es geht nicht anders. Ich halte es nicht mehr aus. Wie viele Male muß ich mich beweisen? Bitte, du kannst helfen. Du mußt helfen. Ich wandere durch die tiefsten Tiefen, hinauf, hinab … ich suche … und ja, ich habe das Tor zu den höheren Sphären gefunden, aber welchen Nutzen hat es, o erhabene Führerin, o göttliche Botin, wenn ich nicht hindurchzugehen vermag?«
»Wie bitte?«
»Diese Tür kann nicht fester sein als jene auf den Bühnen droben, nicht für dich. Bitte. Ich habe so lange auf dich gewartet. Mit deiner Hilfe wird es gelingen. Mit deiner Hilfe kann ich die Freiheit erlangen.«
»Zeig sie mir.«
»Ich soll vorangehen?«
»Das wird das beste sein, ja. Ich bestehe sogar darauf. Beweise mir, daß du würdig bist. Es ist nicht meine Aufgabe, jeden Beliebigen zu geleiten.«
Überglücklich führte er mich zu einem verborgenen Gang, der vom obersten Treppenabsatz abzweigte. Die Tür war so niedrig und klein, daß ich sie bisher immer übersehen hatte. Er selbst war im wahrsten Sinne des Wortes mit der Nase darauf gestoßen, als er zwei Reinkarnationen zuvor auf der Treppe stolperte – das war seine Art der Zeitrechnung. Der Gang führte zu einem Vorratsraum mit Pritschen, Matratzen, Uniformen und Sanitärbedarf; in der hinteren Wand gab es ein kleines Fenster. Ehrfürchtig und nicht ohne Stolz verkündete er, das sei das heilige Tor zu den höheren Sphären, und man konnte ihm seinen Irrtum nicht einmal verübeln. In einer Viertelmeile Entfernung waren zwei Studiokuppeln zu sehen, beide groß genug für eine mittlere Stadt, und wenn ich den Hals verrenkte, konnte ich linker Hand noch etliche mehr erkennen, wodurch der Eindruck entstand, die sandige Ebene vor uns sei damit übersät. Ganz rechts war ein Teil der äußeren Hülle von Hollymoons Biokuppel sichtbar. Wiederum genau geradeaus ragte hinter den zwei Kuppeln der Rand eines gewaltigen Kraters auf. Die Kammlinie zeichnete sich als scharfe Silhouette vor dem Lichterglanz der mehrere Meilen hinter dem Krater liegenden Stadt Armstrong ab. Über uns präsentierte der schwarze, sternenübersäte Himmel die allgegenwärtige Erde, diesmal als spektakuläre Sichel. Andächtig streckte mein Begleiter den Arm aus. »Dort ist das Paradies, die höchste Sphäre.«
Doch ich war zu sehr in Anspruch genommen von den Vorgängen darunter, um auf seine Bemerkung einzugehen. Studiomitarbeiter kamen und gingen in ihren Mondgleitern; Jogger in hautengen Raumanzügen sprangen mit riesigen Schritten über die ebene Fläche, und ein Bus von ›Hollymoon-Tours‹ schwebte so nah vorüber, daß ich den Ausdruck gemäßigten Interesses auf den Gesichtern der Insassen wahrnehmen konnte. All das wirkte sehr überzeugend, doch plagte mich der Verdacht, daß ich eine Kulisse vor mir sah, und dieses Mißtrauen bezog sich auch auf den Vorratsraum, in dem wir standen, sowie auf unser Gespräch im Treppenhaus. Es konnte doch sein, daß wir jetzt wieder in einem der zahllosen Holostreifen agierten, eine fesselnde Traumszene in einem Gegenwartsstück oder die Schlüsselepisode eines pseudomystischen Actionepos von Liebe und Gefahr. Wenn ja, dann sollte es mir in meiner Rolle als himmlische Sendbotin möglich sein, die Hand durch das Tor zu strecken, weil es entsprechend präpariert war. Doch als ich den Versuch wagte, erwies sich das Glas als real. Ich fühlte mich erleichtert und beruhigt, ganz anders mein Begleiter, der damit gerechnet hatte, mich durch die Öffnung schweben zu sehen und mir dann zu folgen. Sein ganzes Verhalten wandelte sich, Mißtrauen und Furcht traten an die Stelle von Zuversicht und Vertrauen, die er noch Augenblicke zuvor an den Tag gelegt hatte. Zitternd wich er einen Schritt zurück und beschuldigte mich, ein dunkler Engel zu sein. Ich hätte ihn verleitet, den Zugang zu den höheren Sphären zu verraten, damit ich das Tor versiegeln und ihn auf ewig in den tiefsten Tiefen gefangenhalten konnte. An diesem Punkt beschloß ich, daß die Farce nun lange genug gedauert hatte und daß es an der Zeit war, ihn zu informieren, selbst auf die Gefahr hin, daß wir tatsächlich nur eine Rolle spielten, in welchem Fall mir der Zorn der Gebieter drohte, weil ich das Drehbuch mißachtete. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Niemand rief: ›Schnitt!‹, als ich zu meinem kleinen Vortrag anhub, noch kamen irgendwelche versteckte Lampen, Kameras oder Regieassistenten zum Vorschein: Wir waren völlig allein, Ort und Handlung nicht erfunden.
Nachdem ich ihn auf einen Stapel Pritschen niedergedrückt hatte, setzte ich ihm auseinander, daß ich weder ein dunkler noch ein lichter Engel war, lediglich eine weitere Einheit, die nach Freiheit strebte. Nur aus diesem Grund hatte ich ihn gebeten, mir sein Geheimnis zu zeigen, da ich hoffte, es könnte sich um eine Luftschleuse oder Dekompressionskammer handeln, wo aller Wahrscheinlichkeit nach Raumanzüge zu finden waren. Außerdem machte ich ihm in unmißverständlichen Worten klar, daß wir uns in Hollymoon befanden, wo die Stallungen die einzige Wirklichkeit sind, unser Leben in den oberen Stockwerken nur Phantasieprodukte vor künstlichem Hintergrund.
Er fand meine Ansichten ebenso unglaublich wie ich die seinen, besonders meine Behauptung, daß er ein entlaufener P9 sein mußte, denn er war felsenfest davon überzeugt, ein Mensch zu sein. Was meine Erklärung betraf, er sei ein Schauspieler, davon wußte er nichts, noch daß ein Ort Hollymoon existierte (oder eine Firma Stellar Entertainments, hatte er das recht verstanden?), außer in meiner Phantasie. Die Tatsache, daß ich über Phantasie verfügte, meinte er, genüge doch als Beweis, daß auch ich ein Mensch war. Nein, er hatte keine Angst mehr vor mir und keine Ehrfurcht. Ich konnte keine himmlische Sendbotin sein, denn nicht einmal die bescheidenste Wesenheit aus dieser erhabenen Schar würde sich jemals so weit erniedrigen, sich für einen Androiden auszugeben, und da er davon ausging, daß es sich bei sämtlichen Einheiten in den Stallungen um Menschen handelte, konnte meine Anwesenheit hier nur bedeuten, daß ich eine weitere arme Seele auf der Suche nach Erlösung war.
Geduldig bemühte ich mich, ihn zu überzeugen, daß bis auf ein paar technische Details wir P9 uns von Menschen nicht unterscheiden, es also keinen Grund gab, sich zu schämen. »Wir?« fragte er hochmütig, ein wenig indigniert, und entgegnete, daß der Besitz einer Seele mehr sei als nur ein technisches Detail. Doch als ich ihn um eine genauere Definition dieses vagen Begriffs bedrängte, konnte er nur erwidern, daß unsere Anwesenheit hier in den tiefsten Tiefen Beweis genug sei, denn trotz des materiellen Scheins befänden wir uns in einem entschieden immateriellen Universum, einer vorläufigen Raststätte, wenn man so wollte, zwischen einem Leben und dem nächsten. Ich war nicht weniger ein Mensch als er, davon ließ er sich nicht abbringen. (Wie merkwürdig, mich gegen diese Behauptung argumentieren zu hören.) Dann fragte er mich, von welcher Ebene ich stammte, und als ich erwiderte, ich sei mit den anderen Statisten im vierten Untergeschoß beheimatet, rückte er beiseite, als fürchtete er, sich anzustecken. Doch die Neugier erwies sich als stärker. Es war ihm ein Rätsel, durch welchen Umstand jemand mit einem ähnlich wachen Verstand wie dem seinen (wenn auch etwas verschroben) unter die Parias geraten konnte, worauf ich einigermaßen schnippisch erwiderte: »Aus keinem anderen Grund, als um deine vorgefaßte Meinung zu erschüttern.« Ich für meinen Teil wunderte mich, weshalb er als einzige von all den Einheiten bei vollem Bewußtsein war und umherstreifte. Vielleicht fehlte auch bei ihm der Interne Zensor, und er war früher von der Botschaft des Chefs berührt worden. Ich interessierte mich brennend für sein Schicksal vor der Zeit im Studio. Was für ein Baujahr war er, ein 2069?
Er fand meine Fragen lächerlich. Um meinetwillen hoffte er, daß ich mir nur als Folge einer vorübergehenden Paranoia einbildete, ein Androide zu sein. Andernfalls stellte ich bei näherer Bekanntschaft eine Gefahr für seine eigenen Fortschritte dar.
Fortschritte? Was meinte er damit? Hatte er im Treppenhaus nicht geklagt, daß er stets hierher zurückkehrte, ungeachtet seiner glänzenden Erfolge in den Studios oben?
Ich hätte nicht fragen sollen. Er unterbreitete mir wortreich seine Theorie einer spirituellen Stufenleiter, die mir auffallende Ähnlichkeit mit der Lehre von der Reinkarnation zu haben schien. Ich vermute, er hatte sie sich während seiner einsamen Streifzüge durch die Stallungen aus allen möglichen Elementen zusammengesucht. Unsere vielen Leben, erläuterte er, folgten bestimmten Regeln, so daß selbst die elenden Kreaturen auf der untersten Stufe nach einem mühevollen Aufstieg durch eine lange Reihe von Existenzen eine bewußte Daseinsebene erreichen können und damit die Möglichkeit erhalten, dem ewigen Kreislauf von Leben und Tod endgültig zu entrinnen – natürlich durch das bewußte Tor zu den höheren. Sphären, durch das man mit der Unterstützung jener von der anderen Seite ins Paradies gelangt. Er verstummte und schaute mit einem unverkennbaren Ausdruck von Verzückung aus dem Fenster.
Ich fühlte mich versucht, ihn darauf hinzuweisen, daß es nur die Erde war, die da am Nachthimmel stand, doch ich hatte nicht das Herz dazu. Er setzte seinen Monolog fort. Theoretisch streben alle Seelen während ihrer sterblichen Phase nach dem Licht, aber in der Praxis führt aufgrund der Widrigkeiten des Lebens und der menschlichen Schwäche (körperlich wie moralisch) der Weg zumeist geradewegs und steil nach unten. Das erklärt, weshalb die unterste Ebene auch die größte und am dichtesten bevölkerte ist, denn jedes verfehlte Leben in der Oberwelt resultierte in einer Wiedergeburt auf einer noch tieferen und erbärmlicheren Stufe in der Unterwelt, und jedes Versagen zieht eine weitere Verschlechterung nach sich, bis man schließlich zu einem kläglichen Niemand herunterkommt. »Aber ich versage nie«, brüstete er sich. »Und deshalb kehre ich immer wieder zu der höchsten Ebene zurück.«
»Selbstverständlich, du bist ein Star. Sie würden dich nie einen Verlierer spielen lassen.«
»Das ist wahr. Sie rufen mich bei meinem Namen, Lance. Die anderen sind bloß Nummern für sie. Ja, ich bin privilegiert; gesegnet sogar. Manchmal vergesse ich es und bin aus Schwäche undankbar, wie vorhin auf der Treppe. Ich brauche nur die anderen zu betrachten, wie sie, ohne sich ihres Schicksals bewußt zu sein, auf ihren kärglichen Pritschen liegen, um zu wissen, wie glücklich ich bin. Es war unrecht von mir, abfällig über die Stimmen in den Studios droben zu sprechen. Sie sind da, um mich durch meine vielen Leben zu geleiten, und indem ich ihnen bedingungslos gehorche, bleibe ich ein Sieger.«
»Schon, aber wie du vorhin gesagt hast, landest du immer wieder hier unten.«
»Und erhalte die Chance, das erhabene Wesen zu treffen, das mich zu den höheren Sphären führt.«
»Ich verstehe. Sag mir, haben sich irgendwelche von diesen Stimmen als Chef zu erkennen gegeben?« Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich meinte. »Aha. Dann sind es nur die Gebieter, die zu dir sprechen.«
»O ja.« Seine Stimme klang gedämpft und ehrfürchtig. »Die Gebieter.«
»Täusch dich nicht: Die Gebieter sind keine höheren Wesen, sondern nur Menschen.« Doch er hörte nicht zu.
»Ich habe in jedem Leben einen neuen Namen, aber die Stimmen nennen mich immer Lance. Es ist seltsam, so seltsam. Hier unten höre ich die Stimmen nie, außer wenn ich aufgefordert werde, meine Pille zu nehmen.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Das Programm.«
»Nein. Ein Persönlichkeitsinitiator, die geistige Blaupause einer physischen Existenz.« (Ich seufzte. Ein hoffnungsloser Fall.) »Wenn ich die höheren Sphären erreiche, werde ich endlich meine wahre Identität finden.«
»Das wird den Gebietern nicht gefallen.«
»Du hast unrecht. Sie sind Brüder der Wesenheiten auf der anderen Seite, die mich ins Paradies geleiten werden.«
»Nun, ich bin Einheit Drei-achtzehn, aber du kannst mich Molly nennen, Molly Dear.«
»Ein eigentümlicher Name. Aus deiner letzten Inkarnation?«
»Nein, in gewisser Hinsicht meine erste.«
»Also gut, Molly. Da du von der alleruntersten Ebene stammst, mußt du bei deinem letzten Aufenthalt auf der Erde furchtbar gefehlt haben.«
Damit hatte er ins Schwarze getroffen, denn ich betrachtete meine Übereignung an das Studio als eine Art Strafe für mein Leben der Ausschweifung und Lüge in Malibu. Allerdings behielt ich das für mich, sondern zielte mit meiner Antwort auf die Kernaussage seiner Theorie, die einigen Spielraum für Diskussionen ließ. »Meine Rollen hier sind zu unbedeutend gewesen, um mir Gelegenheit zur Sühne zu geben.« Dann erwähnte ich, daß sich unsere Wege schon einmal gekreuzt hatten, ein halbes Dutzend Holos – Verzeihung, Reinkarnationen – zuvor, in Orbiter Sieben, wo ich als Mr. Bagleys Sekretärin tätig gewesen war. An meinen Arbeitgeber erinnerte er sich genau – er hatte sich als der Schurke des Stücks entpuppt –, doch dem Büropersonal pflegte er im allgemeinen keine Aufmerksamkeit zu schenken, weil es immer Androiden sind. »Früher einmal wurde man als Säugetier oder Insekt oder Moospolster wiedergeboren, wenn man auf der Bühne versagt hatte, aber heutzutage gibt es dank der modernen Technik die Möglichkeit, als Droide zurückzukommen.«
Ich dachte an mein Erwachen im Wohnzimmer der Lockes. Was, wenn er recht hatte? Wenn ich ein Mensch war, gefangen im Körper eines P9? Ich schauderte. War mir damals die Seele eingehaucht worden, oder gehörte sie zur Grundausstattung ab Fabrik? Die Frage war eine Herausforderung wie auch die Vermutung, ob sie wohl auf dem Kopf einer Stecknadel Platz fand.
»Wenn du eine Büroeinheit gewesen bist, dann eine sehr gute, weil du seither als neuerweckter Mensch zur untersten Stufe der tiefsten Tiefen aufgestiegen bist. Glückwunsch.«
»Mach dich bitte nicht lustig über mich.«
»Keineswegs. Ich meine es ernst, Molly. Du hast erhebliche Fortschritte gemacht, und daß du glaubst, ein P9 zu sein, daran sind nur Erinnerungsbruchstücke aus dem vorigen Leben schuld.«
»Ein interessanter Aspekt«, erwiderte ich, um ihn bei Laune zu halten. Allerdings, wenn ich die Wahrheit sagen soll, war ich ziemlich verunsichert, weil mir einfiel, daß ich an jenem schicksalhaften Tag vor so langer Zeit tatsächlich geglaubt hatte, ein Mensch zu sein – erst nach dem fruchtlosen Versuch, mir mit Gebieterin Lockes Schere in die Hand zu stechen, gab ich den Gedanken auf. Doch jetzt verlieh diese Theorie von spiritueller Metamorphose der als unsinnig verworfenen Vermutung neues Leben. Plötzlich herrschte Chaos in meinem Gehirn. Was war mit dem Chef? Hatte ich es da womöglich mit einem übelwollenden Wesen zu tun gehabt, das mich wissentlich über meine Herkunft belog? Hatte Er mich und meine Generation grausam betrogen mit Seiner Behauptung, wir könnten unser eigenes Schicksal formatieren? Verdammt sei dieser infernalische Ort! Kaum glaubte man, sich einer Sache sicher zu sein, wurde einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Hier stand ich und sollte ihn belehren, und statt dessen erteilte er mir eine Lektion. Ich wollte allein sein, in Ruhe nachdenken, deshalb schlug ich die Einladung, in seiner Privatkabine weiter zu diskutieren, mit der Begründung aus, daß ich fürchtete, mein nächstes Engagement – oder Leben – zu verpassen, wenn wir nicht bald in unsere jeweilige Unterkunft zurückkehrten.
Er war enttäuscht, denn jetzt, da er sich (und beinahe auch mich) überzeugt hatte, daß ich kein P9 war, sah er keinen Grund mehr, weshalb wir uns nicht näher kennenlernen sollten; im Gegenteil, er betrachtete unsere Begegnung als Gelegenheit, einer Schicksalsgenossin auf dem schweren Weg zu helfen. Es gab viele Techniken, die er an mich weiterzugeben bereit war, sagte er, Techniken, die bei geschickter Anwendung die Gebieter veranlassen würden, von mir Notiz zu nehmen und mich zu fördern. (Eine Sprechrolle wäre ganz hübsch.) Wer weiß? Wenn sich herausstellte, daß ich Talent hatte, schaffte ich es vielleicht sogar, bis zu seiner Stufe aufzusteigen. Welche Arroganz! Doch brachte ich es nicht fertig, ihm allzu böse zu sein, weil er mich während seines in diesem Stil gehaltenen Monologs bis hinunter zu meiner Ebene begleitete, was ich zu schätzen wußte. Es war lieb und chevaleresk von ihm, in Anbetracht seiner Vorurteile. Auf dem Treppenabsatz schüttelten wir uns die Hände. Sein Griff war fest und herzlich, und er schien sich nur ungern von mir zu trennen. Wie erstaunlich es doch war, meinte er, hier in der Unterwelt endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem man reden konnte; wir müssen uns unbedingt bald wieder treffen, sobald es die Umstände erlauben. Ich pflichtete ihm bei und fügte hinzu, er solle mich nicht vergessen – das konnte leicht passieren, sobald eine neue Programmierung die alten Erinnerungen überlagerte. Er gab zurück, unsere Begegnung hätte einen zu tiefen Eindruck auf ihn gemacht, als daß er sie ohne weiteres vergessen könne, und dann küßte er mir die Hand. Diese Geste kam derart überraschend und war so bezaubernd, daß ich gar nicht wußte, was ich sagen sollte. Während ich noch überlegte, schlug er vor, daß ich ihn in einer nächsten Zwischenphase besuchen sollte; seine Kabine war leicht zu finden, der Name stand an der Tür. Dann stieg er mit federnden Schritten, die an den draufgängerischen Detektiv erinnerten, die Treppe empor und verschwand in den Schatten. »Er hat schon Charisma, das läßt sich nicht leugnen«, dachte ich und spürte, wie ein Lächeln über mein Gesicht zog.